Was ist wesentlich? – Artikel von Luna U. Müller

Für einen inneren Menschen ist das wesentlich, was das Wesen, unsere wahre Natur, aus dem Schlafzustand befreit und das Entfaltungspotenzial unserer Seele erweckt. So weit so gut. Doch wie sieht es aus mit der Anziehung zum Unwesentlichen? Es erscheint mir sinnvoll, dies zuerst ins Auge zu fassen.

„Das Vergessen ist der Schlaf des Leidens. Deshalb leiden die Menschen daran, dass sie nicht leiden. Bewusstes Leiden ist der Anfang vom Ende menschlichen Leidens.“ *

Dass wir schlafen – obwohl wir auf vielfältige Weise in Bewegung sind, aktiv, auf Kreativität, Erfolg und Veränderung ausgerichtet, immer offen für neue (auch spirituelle) Informationen – kann eine erschütternde Nachricht sein, wenn sie uns wirklich erreicht. Es wäre wohl zu oberflächlich betrachtet, unseren Schlaf als eine rein äußerlich erkennbare Passivität oder Trägheit zu sehen. Wir können tiefer blicken als das und kommen in Kontakt mit Toträumen in unserer Seele. Wir wollen vergessen, dass wir schlafen, wollen vergessen, dass wir leiden, wollen vergessen, dass wir fühlende Wesen sind, in Nähe zu Leben und Tod. Wenn wir beginnen zu erkennen und uns einzugestehen, dass es Bereiche in unserer Seele, unserem Kraftfluss, unserem Herzen, unserer Erkenntnisfähigkeit gibt, die nicht erweckt und „am Leben“ sind, beginnt eine Wandlung hin zum Wesentlichen. Wer den eigenen Schlaf nicht mehr leugnet, indem er sich in Ersatzwelten von Lebendigkeit verliert, erfährt in sich selbst eine Wendung hin zum Wesentlichen.

Wir werden in die Lage versetzt, uns zu fragen, wie wir selbst uns in Schlaf versetzen. Wir beginnen zu ahnen, dass der Schlaf des Vergessens nicht einfach über uns kommt, sondern aus einer geistigen, uns zuerst verborgenen Aktivität entsteht. Wir schlafen „aktiv“ immer wieder ein. Unser Schlaf hat „System“ und folgt unbewussten Absichten. Es geht, wie so oft auf dem inneren Weg, um die Spurensuche.

„Ein Ich, das auf Schutz aus ist, nimmt einen isolierten Standpunkt ein und fließt nicht mit dem Leben. Glücklich ist, wer eins ist mit dem großen Strom des ´’Stirb und Werde‘ “. *

Die Kosmologie des spirituellen Enneagramms ist aus meiner Sicht eines der wesentlichen Hilfsmittel auf dieser Spurensuche. Es zeigt die Wurzeln unserer unbewussten Antriebe und letzten Endes auch, dass unsere bekannte Ich-Welt eine einzige „Schutzfunktion“ ist. Schutz vor Angst, Schmerz und Feuer. Schutz vor Nicht-Wissen, Hingabe und Machtlosigkeit. Schutz vor dem Schatten und vor dem Licht, vor den Momenten der empfundenen Kleinheit und Nichtigkeit sowie der unkontrollierbaren Größe und Weite. Wir haben unsere Wurzeln tief in dem errichtet, was wir auf keinen Fall (mehr) erleben wollen und verlieren damit den Zugang zum Großen Fluss.

Unter der Idee, uns schützen zu müssen, liegt die Weigerung, nahe zu kommen, zu sehen, zu lieben und das verbrennen zu lassen, was unsere eigene Welt aufrechterhält. Wir brauchen ein Wissen um die wesentlichen Eckpfeiler, die unseren ´isolierten Standpunkt´ aufrechterhalten. Das ist das Holz, das wir ins innere Feuer werfen können. Dieses Holz ist lange gelagert und trocken, brennt kraftvoll und lässt das Feuer heiß werden. Es gibt sicher viele innere Themen, denen wir uns zuwenden könnten, doch an welchen Orten gerät unsere bekannte Welt wirklich ins Wanken?

„Jemand war sein Leben lang kurzsichtig und hat sich selbst und die Welt unscharf wahrgenommen. Plötzlich reicht ihm jemand eine Brille, und die erste Reaktion ist Erschrecken: „Oh, mein Gott!“ So geschieht es in der Selbsterforschung. Plötzlich wird alles in der Schärfe der inneren und äußeren Konturen gesehen. Die Verklärung weicht er Erklärung. Und die Erklärung weicht der Klarheit.“ *

Die Lehre, die das spirituelle Enneagramm zur Verfügung stellt, sehe ich als eine Brille, die ich aufsetzen kann, um scharf zu sehen. Es beschreibt die wesentlichen Elemente meines Ich-Gebäudes in allen drei Geschossen. Es begleitet mich, meine Aufmerksamkeit abzuziehen von den nicht-tragenden Säulen dieses Hauses und damit zu den zentralen, haltgebenden vorzustoßen.

Die Frage, die sich dann allerdings immer wieder stellt, ist: Möchte ich scharf sehen? Die Antwort auf diese Frage könnte der Grund sein, warum die Schüler des Weges dieses Werkzeug zwar – mehr oder weniger – kennen, aber an entscheidenden Punkten nicht nutzen. Ich „weiß“ um meine Leidenschaft, doch setze ich die Brille wirklich auf, um in die Tiefe zu verfolgen, was dies für mich bedeutet? Ich fühle Leiden in mir, doch will ich wirklich wissen, welcher Überzeugung ich gerade folge, was ich abwehre und vermeide, in welche Falle ich gerade tappe?

Ja, es kostet mich etwas, zu diesen wesentlichen Elementen vorzustoßen und mich allem zu enthalten, was unwesentlich ist in diesem Moment. Es kostet mich meine Idee der Opferschaft; die tiefe Idee, die dem Schlaf innewohnt, dass ich Opfer eines Geistes bin, der sich in mein Haus schleicht und die Herrschaft über dieses Haus einnimmt. Mein ganzes Leben lang – und darüber hinaus – ist dieser Geist schon Gast in meinem Haus, übernimmt dort Führung und Entscheidung. Ich kann mich ernsthaft fragen, wer ihm die Türe öffnet.

„Wenn dir bewusst wird, dass du selbst Gastgeber bist für was auch immer in dir auftaucht, dann bist du dir deiner eigenen Täterschaft als Leidender, als Unwissender bewusst. Und die Frage ist: Für wen oder was willst du wirklich Gastgeber sein?“ *

Diese Frage, die OM mir stellt, fällt nun auf einen fruchtbaren Boden in mir. Ich bin in diesem Sinne wach geworden, mich in der Verantwortung als Gastgeber zu sehen. Wen lade ich ein in mein Haus? Was ist es, was ich wirklich will? Was nährt meinen Schlaf? Was dient der Seele? Die Brille, durch die ich schaue, wird schärfer. Und tiefer als das Erschrecken über das, was ich sehe, verwurzeln sich Ein-Sicht und Gelassenheit in mir. Das ist wesentlich.

* Zitate von OM C. Parkin